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Ein Bericht:
Als man ihnen am Abend zuvor die Feuerzeuge aushändigte, wurde Fritz Christ endgültig klar, in was er hineingeraten war. Denn die klobigen Dinger waren nicht mit Benzin gefüllt, sondern mit Zyankali-Kapseln. "Damit spart ihr euch eine Menge Ärger", sagte der einweisende SS-Offizier, "für den Fall, dass ihr erwischt werdet." Nichts wie weg von hier, schoss es dem 21-jährigen Obergefreiten Christ aus Mannheim alias Leutnant Charles Smith aus Detroit durch den Kopf. Doch das Waldstück an der deutsch-belgischen Grenze, in dem seine Spezialtruppe biwakierte, war durch Feldjäger abgeriegelt. Vom "Unternehmen Greif" gab es kein Entrinnen mehr.
Am nächsten Morgen, dem 16. Dezember 1944, saß Christ gegen sechs Uhr bereits auf dem Beifahrersitz eines Lkws mit frisch aufgemaltem US-Kennzeichen. Vor seinen Augen leitete ein schwerer Artillerie-Überfall die letzte deutsche Offensive im Westen ein. Geisterhaft beleuchtete aufzuckendes Geschützfeuer die Wälder der Ardennen im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Belgien. Doch der Obergefreite der Hitler-Armee in US-Uniform achtete kaum darauf. Denn der Mann auf dem Fahrersitz hatte ihm gerade fast beiläufig erklärt, was ihr Auftrag sei: "Wir sollen Eisenhower schnappen. Tot oder lebendig." Eisenhower war der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte an der Westfront...
Bis er ins „Kommando Eisenhower“ verwickelt wurde, hatte Christ wenig vom Krieg gesehen. Und auch dieser Einsatz schien zunächst harmlos. Eines Tages Ende Oktober 1944 waren bei Christs Luftwaffeneinheit im norddeutschen Gardelegen zwei leutselige Herren in Zivil erschienen. Wer fließend Englisch und Französisch spreche, solle sich melden. Der junge Mannheimer hob sofort den Arm. Seit er 1942 gleich nach dem Abitur eingezogen worden war, hatte Christ ziemlich Glück gehabt: kein Fronteinsatz, sondern Dienst in der Etappe, erst in Frankreich, dann im besetzten Athen. Dort besuchte der Sohn eines Eisenbahners zehn Monate lang eine Dolmetscherschule der Wehrmacht und polierte sein Schulenglisch und -französisch auf. Die Frage der beiden Herren erschien ihm wie ein Geschenk. "Wunderbar, Kriegsgefangene verhören", dachte er sich, "wieder ziemlich weit ab vom Schuss!"
Die Männer verwickelten Christ in eine Konversation auf Englisch und Französisch. Anschließend hoben sie den Daumen. Angenommen. Marschbefehl für den Truppenübungsplatz Grafenwöhr noch am Nachmittag. Fritz Christ packte beschwingt. Dass neben guten Sprachkenntnissen auch überdurchschnittliche sportliche Leistungen gefragt waren, beunruhigte den 10,9-Sprinter nicht. Nach einer Nachtfahrt durchs zerbombte und verdunkelte Süddeutschland erreichte Christ einen kleinen Bahnhof südlich von Bayreuth. Es war ein seltsamer Haufen, der sich auf dem Vorplatz sammelte. "Heer, Marine, Luftwaffe, SS in allen nur denkbaren Dienstgraden. Ich glaube, ich war der einzige Obergefreite", erinnert sich Christ. Die Männer wurden auf zwei Lastwagen verteilt, nach über einer Stunde Fahrt kamen sie in Grafenwöhr an.
Das große Schweigen herrschte auch im Innern der Kaserne. Niemand sagte den Neuankömmlingen, weshalb sie hier waren. Alle mussten Uniformen und Rangabzeichen ablegen, ihre Truppenausweise und Erkennungsmarken wurden eingesammelt. Ein Offizier erklärte den Männern, dass jeder Kontakt mit der Außenwelt von nun an verboten sei und Hochverrat bedeute. "Ich hatte vorher meinem Vater regelmäßig geschrieben", erzählt der heute 81-jährige Christ. "Als dann meine Briefe ausblieben, machte er sich Sorgen und fragte bei meiner alten Einheit nach. Gut, dass ich damals die Antwort nicht kannte. Sie lautete: Ihr Sohn ist vermisst."
Zwei Dinge fielen dem Obergefreiten in den nächsten Wochen auf: Ganz unüblich für die Deutsche Wehrmacht gab es keine unterschiedliche Behandlung für Offiziere und Mannschaft. Und das Essen war für Ende 1944 erstaunlich gut. "Pilotenverpflegung, sogar mit Schokolade. Aber kein Alkohol." Solche Sonderbehandlung schürte aber auch das Unbehagen. Weshalb bringen Spezialisten jemandem, der Kriegsgefangene verhören oder feindliche Funksprüche übersetzen soll, das lautlose Töten mit Messer, Handkante, Fußtritten oder einer Drahtschlinge bei? Weshalb muss man stundenlang in Springerstiefeln durchs Gelände laufen oder aus drei Meter Höhe aus einem Fenster springen? Weshalb Ladungen aus den neuartigen Plastiksprengstoffen zur Explosion bringen?
"Dazu führte man uns amerikanische Filme im Original vor. Sie zeigten, wie beim US-Militär gegrüßt wird und wie sich Vorgesetzte gegenüber den Mannschaften benehmen. Aber auch, wie Amerikaner rauchen, nie ganz zu Ende nämlich, und wie sie ihre Zigaretten ausdrücken. Oder dass sie bei Tisch erst das Fleisch in Stücke schneiden, dann das Messer weglegen und mit der Gabel in der rechten Hand die Bissen aufspießen", sagt Christ. "Und dann händigte man uns amerikanische Maschinenpistolen aus. Wir lernten, damit aus der Hüfte zu schießen. Außerdem gab es jeden Tag Unterricht in amerikanischem Slang." Viele Teilnehmer des Lehrgangs waren schlicht überfordert. "Ein Kamerad beklagte sich, er habe mit Mühe das Abitur in Englisch bestanden. Jetzt sollte er einem amerikanischen Militärpolizisten Rede und Antwort stehen, ohne aufzufallen." Die Gruppe wurde in "Speaker" und "Non-Speaker" aufgeteilt. Obergefreiter Christ gehörte zu den Speakern. Die Non-Speaker überwogen. Sie sollten auf Fragen anstelle einer verräterischen Antwort mit einem gemurmelten "sorry" ihre Hose öffnen und sich im Eilschritt als vermeintliches Durchfallopfer in die Büsche schlagen.
"Niemand sagte uns, dass es nach dem Kriegsrecht verboten ist, in der Uniform des Feindes zu kämpfen oder zu spionieren. Aber wir hatten auch so ein sehr mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, mit der Waffe in der Hand als Amerikaner rumzulaufen."
Fritz Christ alias Charles Smith wurde einem Lkw als Beifahrer und Speaker zugeteilt. Der US-Stern auf den Türen des Lastwagens glänzte frisch. Benzinkanister waren an den Seitenwänden der Ladefläche festgezurrt, viel mehr Benzinkanister, als die Wehrmacht sonst für kürzere Einsätze zugestand. Hinter dem Führerhaus Maschinenpistolen und -gewehre samt Munition, viel Plastiksprengstoff und ein größerer Medikamentenkasten. Acht bis zehn Männer in US-Uniform kletterten auf die Ladefläche. Christ beschmierte das US-Hoheitsabzeichen mit Schlamm, damit es nicht so funkelnagelneu wirkte. Dann kam der Fahrer. Christ hatte ihn zuvor noch nie gesehen. Den Vornamen des Mannes - man sprach sich beim Unternehmen Greif nur mit Vornamen an - weiß Christ heute nicht mehr. Er sei über 1,90 groß gewesen, kräftig und gut aussehend, so Anfang 30, und habe norddeutschen Akzent gesprochen. "Das war ein absoluter Fanatiker. Er sprach nur vom 'Führer' und davon, dass der Krieg unbedingt gewonnen werden müsse. Kein Opfer sei dafür zu viel. Mir sagte er, ich müsse mit meinem guten Amerikanisch die Unterhaltung bestreiten, falls man uns aufhalte."
Christs Kommando war das einzige, das nicht in einem Jeep losfuhr. Sie sollten keine Telefonleitungen zerschneiden oder Treibstofflager für die nachrückenden deutschen Truppen sichern, wenn möglich. "Unser Ziel hieß Eisenhower."
Fritz Christ beteuert immer wieder, der Fahrer seines Lkws habe mehrmals versichert, man wolle und werde den General kriegen. Die große Entfernung zwischen den Ardennen und Fontainebleau schien Christ nicht als Hindernis. "Wir hatten perfekt gefälschte Marschbefehle und wussten die Namen unserer angeblichen Einheit und deren höherer Befehlshaber. Wir hatten genug Sprit. Wir hatten genaue Straßenkarten, und der Fahrer sagte mir immer wieder, er kenne ganz genau den Weg. Einmal im Hinterland weit ab von der Front, wären wir zügig vorangekommen."
Doch das Kommando Eisenhower scheiterte bereits zwei Stunden nach der Abfahrt. Christ: "Es war gerade hell geworden. Wir mussten einige Kilometer auf offener Landstraße zurücklegen, bevor wir auf Waldwegen wieder Deckung gehabt hätten. Vielleicht waren wir erst kurz vor den amerikanischen Linien. Wir trugen noch die Fallschirmspringer-Overalls über unseren US-Uniformen. Im Schutz des nächsten Gehölzes wollten wir sie ausziehen, weil wir erwarteten, auf die ersten Amerikaner zu stoßen. Plötzlich hörte ich Flugzeuglärm."
Deutsche Kampfflieger kamen im Tiefflug durch den Nieselregen auf den Lastwagen zu und nahmen den vermeintlichen Feind mit dem US-Stern unter Feuer. Offensichtlich hatte niemand der Luftwaffe mitgeteilt, dass an diesem Morgen deutsche Kommandos mit amerikanischen Fahrzeugen unterwegs waren... Für Christ, den 21-jährigen Soldaten ohne Fronterfahrung, war der Angriff die Hölle: "Es war schrecklich. Ich hörte die Einschläge, die Schreie der Getroffenen. Der Fahrer fluchte und versuchte Gas zu geben. Da sprang ich ab und landete in einem tiefen Straßengraben. Zum Glück war die Erde durch den Herbstregen aufgeweicht. Ich sah noch, wie der Lkw Richtung Wald rollte, dann wurde er erneut getroffen. Ich hörte einen furchtbaren Knall. Der Lastwagen war nur noch ein flammender Schrotthaufen."
In Panik stolperte Christ aus dem Graben und in den Wald hinein. Hinter ihm rührte sich nichts mehr. Klare Gedanken konnte er kaum fassen. Doch eine Information blockte der Schock in seinem Gehirn nicht aus: Für den Fall der Rückkehr waren die deutschen Truppenausweise der Soldaten des Unternehmens Greif bei der Bahnhofskommandatur in Köln hinterlegt. Dorthin musste er unbedingt kommen. "Zum Glück hatte ich ja noch die Fallschirmjäger-Montur an. Doch darunter trug ich die US-Uniform. Ich konnte sie nicht wegwerfen wie meinen falschen Dienstausweis, weil es in dem dünnen Overall Mitte Dezember viel zu kalt gewesen wäre. Ich weiß nicht, ob die Feldjäger oder die SS mir die Geschichte vom Unternehmen Greif geglaubt hätten, wenn ich aufgegriffen worden wäre."
Drei Tage und Nächte war Christ unterwegs. Er vermied größere Siedlungen, übernachtete in Heuschobern und weiß heute nicht mehr so genau, wie er eigentlich Köln erreichte. Als er dort ankam, war das Unternehmen Greif bereits aufgeflogen. Der Bahnhofskommandant, ein älterer Offizier, nahm den jungen Mann wortlos in die Arme, bevor er ihm seinen deutschen Truppenausweis zurückgab. Offensichtlich hatte er nicht mit seiner Rückkehr gerechnet. Christ wurde zur Schockbehandlung nach Heidelberg abkommandiert.
Er hat nie wieder einen anderen Beteiligten des Unternehmens Greif zu Gesicht bekommen...